Tauchgang #16: Bitte, mag mich
- Parthena Intze

- 12. Okt.
- 6 Min. Lesezeit

Wir alle kennen Menschen, die unendlich zuvorkommend zu sein scheinen. Die, die jedes unangenehme Schweigen überbrücken, sich für Dinge entschuldigen, die sie nicht getan haben, oder jemandem einen Gefallen tun, für die sie weder Zeit noch Energie haben. Manchmal sind wir vielleicht sogar diese Person. Wir lächeln mit zusammengebissenen Zähnen, während wir einer Sache zustimmen, die wir eigentlich nicht tun wollten. Oder wir haben zugestimmt, einem Kollegen am Freitagabend zu helfen, oder wir haben über einen Witz gelacht, der weh getan hat. Wir reden uns ein, dass wir nett sind, aber tief im Inneren sind wir erschöpft.
Freundlichkeit ist zwar etwas Schönes, aber zwanghaftes Gefallenwollen hat nichts mit Manieren oder Empathy zu tun. Es kann eine tief verwurzelte Überlebensreaktion sein. In der Traumatheorie wird dies als Fawning oder der Bambi-Effekt bezeichnet. Es ist eine Strategie unseres Nervensystems, das sagt: "Wenn ich alle glücklich mache, bin ich in Sicherheit. Wenn ich es schaffe, dass sie mich mögen, werde ich nicht verletzt.“
Die Wissenschaft des Gemocht-Werdens
Unser Nervensystem reagiert nicht nur auf Raubtiere oder laute Geräusche, sondern auch auf soziale Bedrohungen. Missbilligung, Ablehnung oder hochgezogene Augenbrauen können die gleichen Stresshormone auslösen wie körperliche Gefahr. Deshalb fühlen sich Konflikte für manche von uns so unerträglich an: Der Körper denkt buchstäblich, dass sein Überleben auf dem Spiel steht. Wenn sich eine Bedrohung unausweichlich anfühlt, insbesondere in Beziehungen, auf die wir angewiesen sind, und unabhängig davon, ob die Bedrohung real ist oder als solche empfunden wird, schaltet sich das Alarmsystem unseres Gehirns, die Amygdala, ein. Sie sendet ein Signal, das das Autonome Nervensystem in den Überlebensmodus versetzt. Die meisten von uns wissen, was dann passiert (siehe Tauchgang #5):
Kampf (Fight) bereitet uns darauf vor, uns der Gefahr zu stellen,
Flucht (Flight) macht uns bereit zu fliehen,
Erstarren (Freeze) lässt uns alle Systeme herunterfahren, um potentiellen Schaden zu minimieren.
Fawn ist das vierte, ruhigere Geschwisterchen dieser drei. Es wird aktiviert, wenn sich keine der anderen Reaktionen als möglich oder sicher anfühlt. Anstatt anzugreifen, wegzulaufen oder zu erstarren, entscheidet sich das Gehirn für soziale Beschwichtigung. Und genau wie bei den anderen ist diese Reaktion nicht in der Logik begründet, sondern im faszinierenden Reich der Neurologie: dem ventralen vagalen System, einem Teil, der für soziales Engagement verantwortlich ist. Wenn wir beschwichtigen, versucht dieses System zu ko-regulieren, indem es die Quelle der Bedrohung ruhig hält. Instinktiv steuern wir die Emotionen anderer, damit unser eigenes Nervensystem nicht aus dem Ruder läuft. Wir lächeln, nicken, stimmen zu, entschuldigen uns - alles, um uns vor potenziellem Schaden zu bewahren.
Es is verlockend zu denken, dass wir sagen "Mir geht's gut", obwohl es uns absolut nicht gut geht, weil wir schwach sind. Nicht wirklich. Es ist eher unser Körper, der sich daran erinnert, wie er früher einmal in einer ähnlichen Situation überlebt hat.
Der erste Fawning-Trainingsplatz
Der Bambi-Effekt hat seinen Ursprung oft in einem chronischen emotionalen Ungleichgewicht, das in der Kindheit erlebt wurde, und am wahrscheinlichsten mit traumatischen Erfahrungen verbunden ist (siehe Tauchgang #7). Es beginnt in der Regel in einem Umfeld, in dem Liebe oder Anerkennung an Bedingungen geknüpft waren und in dem unsere Sicherheit davon abhing, "brav" zu sein.
Stell dir vor, du wärst klein und versuchst, zu Hause den Frieden zu bewahren. Vielleicht war ein Elternteil unberechenbar, gestresst oder emotional nicht verfügbar. Du hast gelernt, dass hilfsbereit, ruhig oder besonders lieb zu sein, den Sturm fernhält. Vielleicht hing die Erfahrung von Liebe oder Aufmerksamkeit davon ab, dass du gefügig warst. Vielleicht führte dein Ärger oder dein Nichtfolgen zu Rückzug oder Bestrafung. Während dieser Erfahrung hat dein Nervensystem gelernt, dass Verbindung gleich Sicherheit ist, Sicherheit gleich Nachgiebigkeit und Konflikt oder Unnachgiebigkeit gleich Risiko.
Spulen wir ins Erwachsenenalter vor: Die gleiche Strategie zeigt sich bei der Arbeit, in Freundschaften und in der Liebe. Du sagst Ja, wenn du Nein meinst, du nimmst die Bedürfnisse anderer vor deinen eigenen vorweg, du entschuldigen dich, wenn du eigene Gefühle oder Bedürfnisse verteidigst. Du bist ein Meister darin geworden, den Raum zu lesen (siehe Tauchgang #14), aber vielleicht nicht so gut darin, dich selbst zu lesen. Dieselbe Kreativität, die dir einst half, zu überleben, ist jetzt einfach übersteuert. Sie hat viele verschiedene Gesichter:
Es fällt dir schwer, Grenzen zu setzen oder Nein zu sagen.
Du entschuldigst und rechtfertigst dich für alles fast chronisch.
Du fühlst dich in Konfliktsituationen oder bei Missbilligung ängstlich.
Du übernimmst die Verantwortung dafür, wie sich andere fühlen.
Du fühlst dich schuldig, weil du eigenen Bedürfnisse hast.
Es kann nicht genug betont werden, dass diese Verhaltensweisen ein Zeichen von Anpassungsfähigkeit und nicht von Disfuktionalität sind. Mit uns ist nichts verkehrt, ganz im Gegenteil. Wir sind vollkommen unvollkommene menschliche Wesen. Es ist nur so, dass diese Verhaltensmuster automatisch werden, wenn aus dem "Ich sorge dafür, dass es allen gut geht" ein "Ich weiß nicht mehr, was ich brauche" wird. Fawning kann wie Empathie aussehen und doch unsere Authentizität kosten. Wenn wir zu Experten darin werden, den Raum zu lesen, uns aber unser eigener Körper, unsere Vorlieben, Wünsche oder unser inneres Unbehagen fremd sind, lohnt es sich, genauer hinzuschauen. Die Forschung zeigt, dass diese Art der Selbstverleugnung den Cortisolspiegel in die Höhe treiben und zu Burnout, Angstzuständen und sogar zu Autoimmunreaktionen beitragen kann. Der Körper erinnert sich letztendlich doch, wie Bessel van der Kolk es so treffend formulierte (siehe Tauchgang #9).
Ein Ausweg
Es gibt Hoffnung, denn glücklicherweise liebt es unser Gehirn, wenn wir ihm neue Tricks beibringen (siehe Tauchgang #1). Wir alle sind in der Lage, Sicherheit neu zu erlernen. Der Weg aus dem Bambi-Effekt heraus besteht nicht darin, weniger freundlich zu werden, sondern zu lernen, uns selbst in den Fokus unserer Fürsorge einzubeziehen. Er beginnt mit Neugier, Bewusstheit und kleinen neuen Experimenten in Sachen Selbstvertrauen. Zum Beispiel:
Erkennen das Muster: Beginne damit, zu beobachten, wann dein Nervensystem dich zum Beschwichtigen drängt (siehe Tauchgang #2).
Üben dich im Innehalten: Mache eine Pause oder einen Atemzug, bevor du "Ja" sagst, damit dein präfrontaler Kortex wieder in Gang kommt und sich der Alarm in der Amygdala beruhigt (siehe Tauchgang #15).
Verankerung im Körper: Angespannter Kiefer, flacher Atem, hochgezogene Schultern? Klassische Bambi-Effekt-Haltung. Erdungstechniken wie Atemarbeit oder Dehnung teilen dem Vagusnerv mit, dass du jetzt sicher bist und dich entspannen kannst (siehe Tauchgang #4).
Verbinden dich wieder mit deinen Wünschen: Finde heraus, was dir wichtig ist. Journaling kann dafür ein gutes Hilfsmittel sein (siehe Tauchgang #3).
Co-reguliere dich mit Menschen, bei denen du dich sicher fühlst: Heilung geschieht in vertrauensvoller Verbindung und in harmonischen Beziehungen. Halte dich in der Nähe von Menschen auf, die mit dir schwingen und die für dich "sichere Häfen" sind (siehe Tauchgang #13).
Fawning hat dir vor langer Zeit geholfen, zu überleben, und es gibt viel, wofür du dankbar sein kannst. Aber heute, und wenn du dich bewusst dafür entscheidest, musst du dir deine Sicherheit nicht mehr dadurch verdienen, dass du die Rolle des Friedensstifters übernimmst. Du darfst und du kannst deine „Fawning-Software“ aktualisieren.
Die Perle in der Muschel
Fawning bewahrt den Frieden im Außen und schafft Chaos im Inneren. Mit der Zeit kann dieses Muster zu emotionaler Erschöpfung, Angst oder einem Gefühl der Leere und des Nicht-Zugehörens führen. Wenn wir uns ständig in das verwandeln, was andere brauchen, bleibt für unser eigenes wahres Selbst kein Raum zum Atmen.
Wenn wir den Mechanismus des Bambi-Effekts verstehen, ändert sich die Sichtweise von "Warum kann ich nicht einfach nein sagen?" zu "Mein Körper tut das, wozu er trainiert wurde" (siehe Tauchgang #6). Um aus diesem Muster auszubrechen, müssen wir nicht in das andere Extrem wechseln, also konfrontativ oder egoistisch werden. Wie bei allem im Leben geht es auch hier um Ausgewogenheit und Mäßigung.
Echte Beziehungen entstehen, wenn beide Seiten sich so zeigen, wie sie sind, und nicht, wenn einer der beiden in der Beziehung verschwindet oder seine Ruhe und Sicherheit von der Zustimmung des anderen abhängig macht. Wenn wir so gemocht werden wollen, wie wir wirklich sind, hilft es, den Mut aufbringen, echt zu sein und unserer Wahrheit eine Stimme zu geben.
Und wenn du dich das nächste Mal dabei ertappst, dass du "Es ist gut" sagst, obwohl es nicht so ist: Herzlichen Glückwunsch! Das ist menschlich, nicht disfunktional. Es zeigt, dass deinKörper dich hervorragend beschützt. Er hat nur vergessen, dass die Gefahr vorbei ist und dass du vielleicht ein altes, "nutzloses" Überlebensskript anwendest.
Wie Coaching unterstützen kann
Im traumainformierten Coaching wird dir ein sicheres Umfeld geboten, in dem du deine Authentizität erforschen kannst. Ein Coach kann dir dabei helfen
die Fawning-Frühwarnsignale deines Körpers zu erkennen
deine Werte und deine Grenzen zu erforschen
von Schuldgefühlen zu Gefühlen der Selbsterkenntnis überzugehen
zu erkunden, wie sich deine Grenzen, deine Sicherheit und deine Authentizität nicht ausschließen müssen.
Trauma-Informiertes Coaching ist keine Therapie. Es ist ein Coaching-Ansatz, der versteht, wie vergangene Erfahrungen die Art und Weise prägen, wie wir in der Gegenwart denken, fühlen und reagieren. Es schafft eine sichere Umgebung, in der der Klient Veränderungen in einem Tempo erforschen kann, die für seinen Körper und sein Geist am besten zu verarbeiten sind.
Auf dem Weg heraus aus dem Bambi-Effekt geht es nicht darum, gefühlskalt zu werden. Es geht darum, echter zu werden und zu lernen, dass Freundlichkeit nicht eine Währung für Sicherheit ist, sondern ein authentischer Ausdruck dessen, wer wir sind.
Meine Bücher des Monats
Fawning (Dr. Ingrid Clayton, 2025)
Are you mad at me? How to stop focusing on what others think and start living for you (Meg Josephson, 2025)




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